Zur Bewegung in Frankreich:
And if we would reflect a mo(uve)ment ?
Und wenn wir einen Moment/eine Bewegung überdenken könnten?
Auf linksunten.indymedia.org ist eine Übersetzung eines Textes aus Marseille veröffentlicht worden, nachdem bei der letzten Demo Ordner der großen französischen Gewerkschaft CGT andere Teilnehmer angegriffen hatten.
veröffentlicht von Johhny auf linksunten.indymedia.org
Am 10. Mai beschloss die Regierung von Hollande das geplante Arbeitsmarktgesetz ohne Zustimmung des Parlaments. Am selben Tag wurde der seit den Bataclan-Anschlägen vom letzten November bestehende Ausnahmezustand um zwei weitere Monate verlängert. Die folgenden antiautoritären Demos am 12. Mai wurden in Paris und Marseille von den Ordnern der größten Gewerkschaft, CGT, angegriffen: Die soziale Bewegung in Frankreich tritt in eine neue Phase ein.
Während somit die bewegungsinternen Konflikte und Widersprüche stärker werden, verfestigen und verbreiten sich die direkten und militanten Aktionen, die in der letzten Woche als Reaktion auf den Gesetzesbeschluss zu vielen Rathausbesetzungen und Angriffen auf Parteibüros der Regierung geführt haben. Die nächste Woche wird die weitere Dynamik bestimmen: Am 17. Mai wird mindestens der Transport-Sektor in einen verlängerbaren Streik treten, damit erhöhen die Gewerkschaften landesweit den Druck. Die Mobilisierungen deuten an, dass die nächste Woche an die heftigen Aktionstage am 31. März und 28. April anknüpfen wird und bezüglich der ökonomischen Störkraft sogar über diese hinaus gehen kann.
Der folgende Text entstand in Marseille am Tag nach den Angriffen der CGT-Ordner und wirft anhand einer Analyse der bestehenden Bewegungspraxis einen Blick auf die kommende Zeit. Er gibt den Blick einer anarchistisch-revolutionären Tendenz wieder, die in den Berichterstattungen in Deutschland so gut wie nie reflektiert wird, die für die markanten Straßenkämpfe und Infrastruktur-Blockaden aber in vielen Städten wesentlich ist.
Die Originalvorlage Et si on réfléchissait un mo(uve)ment? der etwas gekürzten Übersetzung findet sich hier.
Eine regelmäßige Dokumentation der Bewegung findet sich hier.
And if we would reflect a mo(uve)ment ?
Seit den „Ereignissen“ des 12. Mai gestern erhitzen sich die Debatten darüber, wer wen auf welche Weise angegriffen hat. Da ich für meinen Teil eine ziemlich klare Idee dazu habe (angesichts der Tatsache reichlich Gas direkt in die Schnauze bekommen zu haben), hilft das vielleicht um den Schulhof zu verlassen und über all das angesichts der Zeit, die kommt, nach zu denken.
(…)
Wo stehen wir eigentlich?
Am gleichen Donnerstag, 12. Mai, scheiterte aufgrund mangelnder Stimmen der Misstrauensantrag der Rechten um die Regierung von Valls (Premierminister, Anm. d. Ü.) zu stürzen. Das gleicht faktisch der Annahme des Arbeitsgesetzes „in erster Lesung“ (wenn man sagen kann, es hätte wirklich eine „Lesung“ gegeben) durch die Verwendung des Artikels 49.3 am Dienstag, 10. Mai. Über das Scheitern dieses Misstrauensantrags sollten wir nicht traurig sein, denn der darin formulierte Inhalt ist zumindest genau so zum Kotzen wie derjenige der Parti Socialiste (PS; regierende Sozialistische Partei, Anm. d. Ü.). Die Rechte wird nie eine Verbündete sein.
Zudem ist die Anwendung dieses Artikels keine Unausweichlichkeit, es ist noch möglich den Druck zu erhöhen, damit dieses verfluchte Gesetz zurück gezogen wird. Behalten die Erfahrung vom CPE (Contrat première embauche; Ersteinstellungsvertrag, Anm. d. Ü.) von vor zehn Jahren im Kopf, der trotz des Artikels 49.3 zurück gezogen wurde, obwohl das damit einhergehende Gesetz zur Chancengleichheit wirkmächtig wurde.
Alles in allem ist der Rückgriff auf diesen autoritären Artikel recht logisch: Er ist Zeichen eines auf der Straße gegebenen Kräfteverhältnisses, stark genug, damit diese Waffe eingesetzt werden muss. Hätten die Mobilisierungen nicht eine ausreichende Spannung aufgebaut, würde die Regierung ihn nicht benutzen. Sehen wir das als eine technische Phase in unserem Kampf, nicht als ein Ende. Was man trotzdem bemerken kann, ist eine sich von vorher deutlich unterscheidende Situation.
Faktisch unterstützen wir seit zwei Monaten eine relativ große Mobilisierung, die hinsichtlich ihrer Form einige Spezifitäten aufweist. Manche Demos vereinten hunderttausende Leute im Zuge von gewerkschaftlichen Streikaufrufen. Aber diese Aufrufe waren zu spärlich, um ein ausreichend starkes Kräfteverhältnis zwischen diesen Aktionstagen aufrecht zu erhalten. Von daher die Mobi zu zahlreichen anderen wilden Demos zwischen diesen großen Tagen, kleiner zwar aber regelmäßiger, wo umso größere Störungen der Logistik provoziert wurden und umso weniger Leute den Bossen einen weiteren Ausbeutungstag bescheren konnten. Auf diesen Demos, in zahlreichen Städten, war es oft der Block „Jugend, Schüler, Autonome, Anarchisten, Nicht-Mitglieder, Unabhängige…“, der sich an die Spitze der Demo setzte und von dort heraus weitere Aktionen machte. Bahnhöfe wurden blockiert, strategische Orte angegriffen, die Ordnungsmacht angepöbelt - und manchmal ordentlich aufgewühlt.
All diese Aktionen hatten gemeinsame und sich ergänzende Effekte unterschiedlicher Art:
- Bruch mit dem Normalzustand ökonomischer Produktion und dem Alltagstrott;
- Steigerung des Konfliktniveaus der Demos und der Auseinandersetzungen;
- Regelmäßige Eroberung der Straße trotz dem Versuch des Ausnahmestaats uns in unser Zuhause zurück zu zwängen. Viele haben das Lachen und die Lust zu Kämpfen wieder gefunden, um damit aufzuhören sich erdrücken zu lassen und wieder das Gemeinsame zu denken.
- der ökonomische Effekt all dieser Aktionen, die Blockaden des Transports und der Mobilität, die Nicht-Präsenz am Arbeitsplatz anlässlich der Streiktage, die großen Kosten für Lohn und Material der Polizei, die Blockade multinationaler Konzerne, Häfen, Bahnhöfe, Autobahnen, die Zerstörung von Schaufenstern oder Parteibüros der PS, etc.
- Schaffung einer neuen politischen Generation und vielfältiger Begegnungen, die die politische Diskussion wieder zur Mode machten, in einer Zeit, in der Isolation und Apathie herrschten.
Diese Bewegung hat gewissermaßen auch die Handhabung der mobilisierungsinternen Konflikte verändert. Ein Beispiel: Die ewige und schiefe Debatte über Gewalt/Nicht-Gewalt wurde schnell in Richtung einer Akzeptanz der Pluralität von Aktionsformen und Taktiken geführt, ohne in die mediale Falle von gemeinen „Chaoten“ und friedlichen „Demonstranten“ zu tappen. Das soll nicht heißen, dass es bei dieser Frage keine Konflikte gäbe, aber es scheint mir als ob die Dimensionen andere wären als im Zuge der vorangehenden sozialen Bewegungen. Übrigens lässt sich teilweise annehmen, dass die Bewegung gerade Dank dieser Akzeptanz ein ausreichend hohes Konflikt- und Spannungsniveau - mit dem Ergebnis hoher Straßenpräsenz - erreicht hat, um ein konsequentes Kräfteverhältnis aufzubauen; das also, zudem die Wiederholung der Demos und die immer wieder vorhandene Widerständigkeit waren entscheidend.
Wenn man dies mit der letzten großen sozialen Bewegung vergleicht, der Rentenbewegung von 2010 (die unglücklicherweise ihre Ziele nicht erreichte), kann man sich einiges klar machen, vor allem was die sehr unterschiedlichen Kräfteverhältnisse angeht. Im Grunde hatten wir 2010 die Ökonomie des Landes paralysiert. Fabriken, Bahnhöfe und Autobahnen wurden blockiert, permanent. Und zwar aufgrund einer Zusammenarbeit zwischen den starken internen Mobilisierungen in den Fabriken und Unternehmen, wo zu einem verlängerbaren Streik aufgerufen wurde (im Gegensatz zu den meist auf einzelne Tage beschränkten Streiks bisher, Anm. d. V.), und der Entschlossenheit auf der Straße, wo die Demos häufig in gewaltsame Konfrontationen mit der Polizei und Aktionen gegen die Symbole des Kapitalismus mündeten.
Heute gibt diese Blockaden kaum. Zum einen aufgrund einer relativ schwachen Mobilisierung in der Arbeitswelt was die Verlängerbarkeit der Streiks angeht, zum anderen aber auch aufgrund deutlich gewalttätigerer Repressionsstrategien als zuvor. Polizei und Politik haben überhaupt keine Lust auf eine Wiederholung des Szenarios allgemeiner Blockade, vor allem jetzt nicht, wo umso mehr Leute als damals bereit sind zu kämpfen, wenn nötig. Das Zusammenspiel dieser zwei Elemente machte die damalige Lage explosiv und genau diese Konstellation erhoffen wir uns ab dem 17. Mai, wenn zu ernsthafteren Streiks aufgerufen wird.
Was wir alle wissen ist, dass die großen gewerkschaftlichen Organisationen (wenngleich nicht ausschließlich) korporatistische und zu den sozialen Kämpfen quer liegende Interessen haben, wie die Aufrechterhaltung ihrer Position mitten im politischen Spielfeld und die kleinen politischen Kalküle, die mit den Kämpfen nichts zu tun haben; oft ergänzt mit dem Willen nach Hegemonie, um sich die Bewegung anzueignen und diese in Richtung der Verteidigung ihrer Organisationsinteressen umzulenken. Das ist nicht neu.
Aber man weiß auch, dass die Gewerkschaftszentralen von ihrer Basis oft einen Tritt in den Arsch bekommen, dass diese nicht zwingenderweise in einem identitären Verhältnis zu ihrer Organisation steht (auch wenn das oft der Fall ist), und die an den Streikaufruf gebunden ist, der aus den internen und dort von revolutionären Syndikalist*innen geführten Konflikten her rührt. Das wiederum erlaubt jeder Sektion sich mit den spezifischen Mitteln im Kontext ihrer Arbeit einem größeren Kampf anzuschließen und damit eine neue Kampflinie zu eröffnen.
Also wo stehen wir heute?
Seit zwei Monaten wurde die Spannung in der Mobilisation zum Großteil aufgrund des autonomen Blocks aufrecht erhalten, der sich mit den gewerkschaftlichen Demos verband und in diese Mobilisierungen faktisch das nötige Kräfteverhältnis einbrachte, um der Bewegung Kontinuität zu geben. Unklar, ob diese Demos überlebt hätten, wenn es nicht diese Auseinandersetzungen gegeben hätte, diese „Chaoten“, diese Offensive; denn die Blockaden der Wirtschaft und die Mobilisierungen unter den Arbeitenden existierten nicht in ausreichender Weise. Die Streiktage alleine hätten nicht ausgereicht, um dort an zu kommen, wo wir heute sind, und es scheint mir ziemlich naiv, das nicht anzuerkennen. Es ist das Ensemble aller Aktionen und Demonstrationen, die die derzeitige Schwebe hergestellt haben.
Im Moment aber verschiebt sich das Gravitationszentrum der Bewegung. Einerseits, weil nach zwei Monaten Mobilisierung alle erschöpft sind, aber auch weil sich die Bewegung erneuert, neue interne Konflikte in aller Öffentlichkeit auftreten, neue Kräfte in die Schlacht einziehen und die repressiven Strategien sich verändern, insbesondere im Zuge der Anwendung von Artikel 49.3 (der er es der Regierung erlaubt das Gesetz ohne Parlamentsbeschluss durch zu setzen, Anm. d. Ü.)
Ich persönlich sehe die Kämpfe gegen die Polizei und die offensiven Aktionen im Laufe der wilden Demos, die es in den letzten Monaten gab, genau so gern wie die zukünftigen verlängerbaren Blockaden im Zuge der Streiks - in der Annahme, dass diese tatsächlich stattfinden. Die Methoden sind also unterschiedlich, aber - will man nicht in Scheinheiligkeit versinken - sie tragen alle zum Aufbau und zur Aufrechterhaltung des erkämpften Kräfteverhältnisses bei. Eine Vergrößerung der Bewegung hilft wenig, wenn sie sich nicht gleichzeitig verfestigt. Und umgekehrt, die Bewegung zu radikalisieren ohne sie zu verbreitern würde unmittelbar dazu führen die Kämpfenden in einer Spezialist*innenrolle ein zu schließen, die Bewegung würde sich schnell erschöpfen. Das ewige Dilemma.
Wenn die verlängerbaren Streiks ein Erfolg werden, wird es eine sehr starke Herausforderung sein dort zu sein und sie zu unterstützen, denn angesichts dieses Gesetzes steht die Regierung auf der Kippe. Den Schwerpunkt der Bewegung zu verschieben, bedeutet meiner Meinung nach allerdings nicht die bisherige Praxis aufzugeben. Man muss sie sich nur weiter entwickeln lassen. Wissend, dass die polizeiliche Repression ebenso ansteigt, müssen wir uns weiterhin aktiv verteidigen können.
Denn es ist klar, dass das Modell „gewerkschaftliche Demo + wilde Demo“ durch seine Ritualisierung an Atem verliert. Das lässt Regierung und Polizei Zeit und Raum um sich konsequenter zu organisieren, da der anfängliche Überraschungseffekt dieser Kombination von nun an verloren ist. Ein ganz wichtiger Faktor in den wilden Demos, den Auseinandersetzungen und direkten Aktionen war, dass wir die Initiative hatten. Aber wie gesagt, hat sich jetzt alles verschoben. Wir müssen diese Initiative wiederfinden, somit unsere Strategien verändern, um die Polizei und ihre Strategien gegen die Bewegung aufs Neue durcheinander zu bringen.
(…)
Letztlich treten wir in eine Phase ein, in der wir „alles blockieren“ können. Die Gewerkschaften alleine werden nirgends ankommen. Es fehlt ihnen an Dynamik, an Initiative. Die existenzielle Beziehung zum Kampf ist die Autonomie der Praktiken. Aber angesichts des Ausmaßes des derzeitigen Kampfes ist es auch offensichtlich (wenn man sich auf die Forderungen der Bewegung bezieht), dass die Autonomen alleine es ebenso nicht schaffen; die momentanen polizeilichen Zuckungen tun ihr Übriges (nach dem 10. Mai verhinderte die Polizei in Marseille für einige Tage die öffentlichen Vollversammlungen der Bewegung durch Kesseln der Teilnehmenden oder durch die Besetzung des Versammlungsortes, Anm. d. Ü.).
Wir alle sind Chaot*innen gegen das Projekt des Neoliberalismus. Handeln wir dementsprechend.
Schlagen wir die Banken ein, zerschlagen wir ihre Projekte, zerstören wir die Polizei, den Artikel 49.3, zerbrechen wir die Einschüchterungsversuche und die autoritären Regungen im Inneren wie im Äußeren der Bewegung, zerschlagen wir das Arbeitsgesetz, durchbrechen wir die medialen Lügen. Zerstören wir den Staat und das Kapital.