Lebenslohn, was bedeutet das? 

In dieser Artikelserie werden wir versuchen zu erklären, was der Lebenslohn ist und welche strategischen Herausforderungen er für eine Gewerkschaft wie die FAU mit sich bringt.

Der Lebenslohn, auch Lohn für die persönlichen Fähigkeiten genannt, ist ein Konzept, das vom französischen Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler Bernard Friot entwickelt wurde. Wir werden diesen ersten Artikel der Frage der persönlichen Fähigkeiten widmen.

Die Frage der Fähigkeiten ist ein ständiger Kampf zwischen den Arbeitnehmer:innen und den Arbeitgeber:innen. Mit dem Machtverlust der Gewerkschaftsbewegung befinden wir uns heute in einer Situation, in welcher die Arbeitgeber:innen in dieser Frage das Sagen haben.

Kurz gesagt läuft das folgendermassen ab: Zunächst teilen die Arbeitgeber:innen die zu erledigende Arbeit in einzelne Aufgaben auf. Danach fügen sie diese Aufgaben innerhalb der Firma zu Arbeitsstellen zusammen. Schliesslich erstellen sie für jede dieser Stellen ein Profil und daraus ergibt sich dann eine Anstellung.

 

Es ist offensichtlich, dass die Arbeitgeber:innen, wenn sie eine solche Arbeitsstelle definieren, womit spezifische Aufgaben gemeint sind, immer versuchen, bestimmte Aufgaben im Dunkeln zu lassen und sie nicht zu berücksichtigen. Ähnlich läuft es, wenn ein Stellenprofil festgelegt wird: Auch hier versuchen sie stets, Fähigkeiten und Kenntnisse, die für die Ausführung der Arbeit notwendig sind, unsichtbar zu machen. Ihr Ziel ist es, nicht für die gesamte geleistete Arbeit und die dafür benötigte Qualifikation bezahlen zu müssen. Wir alle kennen diese Situation. Im Alltag müssen wir Aufgaben erledigen, die nicht im Pflichtenheft oder in der Stellenbeschreibung stehen sind, um unsere Arbeit ausführen zu können. Und ebenso wenden wir immer wieder Fähigkeiten und Kenntnisse an, die nicht im Stellenprofil erwähnt werden, nicht anerkannt und daher nicht bezahlt werden.

Je günstiger das Kräfteverhältnis für die Arbeitgeber:innen ist, desto mehr Möglichkeiten haben sie, die Stellenbeschreibungen und -profile unvollständig zu machen. Aber das ist noch nicht alles. Im ständigen Streben nach Gewinnmaximierung und Kontrolle werden sie auch versuchen, wo immer sie es können, die Arbeitsteilung zu intensivieren und verstärken. Dadurch versuchen sie, Arbeitsstellen tiefer einzustufen, aber auch die Deutungshoheit über die Berufszertifizierung und die Ausbildungen zu erlangen.

Die Handlungsmacht der kapitalistischen Klasse zeigt sich in der Definierung der Stellenprofile, insbesondere darin, dass diese abgewertet werden, indem die Aufgaben auf dem Papier auf verschiedene Stellen verteilt werden. In Wirklichkeit wird die Arbeit dennoch so organisiert, dass alle zur Produktion nötigen Aufgaben abgedeckt sind.

Die Abwertung greift selbst Stellen an, die viel wichtiges Wissen erfordern. Diese höher qualifizierten Stellen sind umgänglich, damit die Arbeit erledigt werden kann. Aber die Dequalifizierung auf dem Papier ermöglicht es, weniger Lohn zu bezahlen und die Macht der Hierarchie zu erhöhen. Eines der prominentesten Beispiele dafür ist die Situation von Pflegehelfer:innen, die täglich krankenpflegerische Aufgaben übernehmen, bis sie ein entscheidendes Gewicht in der Leistungskette der Gesundheitsarbeit erlangt haben.

Wir sehen: Die Fähigkeiten sind zentral, wenn es um Handlungsmacht, Lohn und Einstufung geht.

Was bringt uns angesichts dieser Situation also der Lebenslohn? Er stellt die persönlichen Fähigkeiten in den Mittelpunkt. Lohn ist politisch, und der Lebenslohn ist eine politische Errungenschaft, ein soziales Recht. Die Anerkennung der Fähigkeiten und der Leistung bei der Arbeit (egal ob geleistete oder mögliche Arbeit) lässt uns der kapitalistischen Beschäftigung entkommen.

Beim Lebenslohn sind es die gesamten Qualifikationen, Fähigkeiten und Kenntnisse einer Person, die ihr Lohnniveau bestimmen. Unabhängig von der Position und den zu erledigenden Aufgaben ist es die persönliche Qualifikation, die den Lohn festlegt. Mit persönlichen Fähigkeiten und Kenntnissen sind nicht nur die durch Zertifikate bestätigten Fähigkeiten und Kenntnisse gemeint, sondern alle Fähigkeiten und Kenntnisse, die eine Person gesammelt hat, unabhängig davon, ob sie in den Augen der Chef:innen nützlich sind oder nicht.

Der Lebenslohn stellt die Qualifikationen, Fähigkeiten und Kenntnisse einer Person in der Gesellschaft fest, nicht in Bezug auf die kapitalistischen Anforderungen. Er geht davon aus, dass jede Fähigkeit und jedes Wissen einer Person zur Produktion von Wohlstand für die Gesellschaft beiträgt. So hängt der Lohn nicht mehr von einem kapitalistischen Anstellungsverhältnis ab.

 

Welche Kämpfe muss eine Gewerkschaft heute führen, um in der Frage des Lebenslohns voranzukommen?

Das Kräfteverhältnis ist aktuell günstig für die Arbeitgeber:innen. Wir glauben, dass es durch Kampf und Organisation zugunsten der Arbeitnehmer:innen verschoben werden kann. Damit ihre Kräfte zunehmen, braucht es Kontinuität.

Während der Lebenslohn wie ein weit entferntes Ziel erscheinen mag (eigentlich gar nicht so weit, aber dazu später mehr in dieser Artikelserie), gilt dies nicht für viele unmittelbare Ziele, für die wir heute durchaus schon kämpfen können.

Gehen wir noch einmal auf die Instrumente ein, die Arbeitgeber:innen einsetzen, um Fähigkeiten und Kenntnisse ebenso zu verschleiern wie die Aufgaben, die zur Ausführung der Arbeit erforderlich sind. Es gibt die Stellenbeschreibung und/oder das Pflichtenheft, in denen die auszuführenden Aufgaben definiert werden; das Stellenprofil definiert die erforderlichen Fähigkeiten und Kenntnisse. Es gibt noch ein weiteres Element, das erwähnt werden muss, nämlich die Berufserfahrung. Wann immer es möglich ist, versuchen Arbeitgeber:innen, jahrelange Erfahrung nicht zu berücksichtigen, wenn sie z. B. in einem anderen Beruf oder sogar in einer anderen Branche erworben wurde. Oder sie nur teilweise anzurechnen, wenn sie z. B. in «niedrigeren» oder abgewerteten Stellen oder während einer Ausbildung erworben wurden.

Bereits heute müssen wir den Kampf um die Frage der Qualifikation und der Erfahrung führen. Es ist ein Kampf, der zwangsläufig individuelle Aspekte hat, aber er verweist immer auf einen kollektiven Rahmen. Der Kampf muss daher auf beiden Ebenen, individuell und kollektiv, geführt werden.

Wir müssen alle unsere Fähigkeiten und Kenntnisse anerkennen lassen, auch die, die nur selten mobilisiert werden. Mensch muss die Differenz zwischen der Stellenbeschreibung oder dem Pflichtenheft und den tatsächlich ausgeführten Aufgaben und den tatsächlich übernommenen Verantwortlichkeiten bei der Ausführung der Arbeit feststellen, einschliesslich derjenigen, die nur gelegentlich in Anspruch genommen werden. Mensch muss seine gesamte gesammelte Erfahrung unabhängig von der Branche und der Position anrechnen lassen. Dies muss systematisch und von möglichst vielen Arbeitnehmer:innen getan werden, bis das politisch und gesellschaftlich üblich wird.

Aber um das individuelle Vorgehen zu unterstützen und einen gewissen Schutz für die Arbeitnehmer:innen, die diese Schritte unternehmen, zu gewährleisten, ist ein breiter und dauerhafter kollektiver Kampf bezüglich diesen Fragen erforderlich. Ein solches Vorgehen muss sich auf die kollektive Stärke, auf die Kampfstärke der Arbeitnehmer:innen stützen können. Vereinbarungen und Tarifverträge sind ein entscheidendes Thema in diesem Kampf.

Die Gewerkschaft muss in allen Bereichen zu diesen Fragen aktiv werden, direkte Forderungen formulieren, den Kampf organisieren und führen. Hier sind einige Ansätze.

Volle Anrechnung der Erfahrung aller Arbeits- und Ausbildungsjahre

Das Endziel dieser Forderung besteht darin, den Unterschied zwischen dem Einstellungsgehalt und der Spitze der Lohnklasse zu beseitigen und die Einteilung in der obersten Stufe für alle zu erzwingen. Auf einer Zwischenstufe muss ein Kampf um die Jahreszuschläge geführt werden, um den Lohnanstieg zu erreichen und zu beschleunigen. Das Ziel all dessen ist eine allgemeine Lohnerhöhung.

 

Anerkennung von Fähigkeiten, eingesetztem Wissen (zertifiziert oder nicht) und übernommener Verantwortung.

Die Gewerkschaft muss «Gegenprofile» für die Stellen formulieren. Es liegt an den Arbeitnehmer:innen zu sagen, welche Fähigkeiten und welches Wissen eingesetzt werden. Es liegt an uns, zu definieren, was unsere Berufe sind. Dies ist ein zentraler Kampf, der gegen die Vertiefung der Arbeitsteilung, das heisst die Parzellierung der Aufgaben, geführt werden muss. Es gibt auch einen wichtigen Kampf um die Frage der Autonomie der Arbeitnehmer:innen, ihrer Freiheit, ihre Arbeit zu organisieren. Mensch sollte nicht vergessen, dass Autonomie und Freiheit nicht nur auf zusätzliche mobilisierte Fähigkeiten und Kenntnisse folgen, sondern auch eine grössere Verantwortung mit sich bringen. Diese Kämpfe sind unerlässlich, damit alle Arbeitnehmer:innen in den Lohntabellen höher eingestuft werden. Mensch muss versuchen, durch die höhere Einstufung der Arbeitsstellen und ihrer Qualifizierung den kapitalistischen Rahmen zu zerschlagen, indem mensch Keile in den kleinsten Widerspruch, in die kleinste Lücke treibt.

Diese Kämpfe ermöglichen es uns, die Frage von der beruflichen Qualifikation, das heisst der für eine bestimmte Arbeit erforderlichen Fähigkeiten, zur persönlichen Qualifikation, das heisst der Gesamtheit der Fähigkeiten und Kenntnisse einer Person in der Gesellschaft, weiterzuentwickeln.

All diese Kämpfe, die es zu führen gilt, sind nicht linear. Sie stellen keine Etappen dar, die in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen werden müssen. Es handelt sich um eine Art Markierung, die einen Kampfbereich definiert. Es geht darum, sich in diesem Kampfgebiet zu bewegen und so viele Positionen wie möglich einzunehmen. Es geht auch darum – und hier können wir uns mit dem Kampf für lebenslange Löhne verbinden –, die Grenzen dieses Kampfgebiets zu sprengen. Es geht darum, in den Fortschritten wie in den Rückschlägen zu versuchen, die Grenzen zu verschieben. Wir werden in einem anderen Artikel dieser Reihe auf diese Fragen des Kampfrahmens, den es zuerst festzulegen gilt, um ihn dann zu durchbrechen, zurückkommen.

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